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Channel: Reden – Beate Müller-Gemmeke
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Rede: Arbeitsbedingungen und Arbeitszeit

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Die Corona-Pandemie hat die Verwerfungen in unserer Arbeitswelt schonungslos offengelegt. Doch die Bundesregierung hat es trotz vieler Versprechen die Chance verpasst, die Arbeitswelt sozialer, inklusiver und nachhaltiger zu gestalten. Das ist wirklich ein Armutszeugnis, denn gerade jetzt ist es höchste Zeit, dass wir auf dem Arbeitsmarkt für wirklich faire Spielregeln und mehr soziale Leitplanken sorgen.

Vizepräsidentin Dagmar Ziegler:

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen!

Unsere Arbeitswelt hat sich stark verändert, sie ist gespalten. Es gibt viele gute Arbeitsplätze: tariflich bezahlt, mitbestimmt, mit Zeitsouveränität und guten Arbeitsbedingungen. Auf der anderen Seite aber gibt es viele prekäre Arbeitsplätze. Da gibt es keine Tarifverträge, die Löhne sind niedrig, die Arbeitsbedingungen sind schlecht.

Mindestlohn, Minijobs, Leiharbeit, Befristungen, Arbeitszeit – wir haben hier so oft über diese Themen, die die Menschen unmittelbar und direkt betreffen, diskutiert. Gleichzeitig wurden Gesetze zwar lautstark angekündigt, gemacht wurde aber an dieser Stelle nichts – außer bei der Fleischbranche, und das auch nur wegen Corona. Hier wurden eine ganze Legislaturperiode lang Chancen verpasst, und das kritisieren wir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Millionen von Menschen können inzwischen kaum von ihrer Arbeit leben. Der Niedriglohnsektor hier in unserem Land ist einer der größten in Europa. Mehr als ein Fünftel der Beschäftigten arbeitet unter prekären Arbeitsbedingungen. Viel zu viele Menschen arbeiten und müssen trotzdem Hartz IV beantragen. Wenn Menschen nicht wissen, wie sie über das Monatsende kommen, dann macht das was mit ihnen. Da geht es um die Existenz. So entstehen Sorgen und Ängste und das Gefühl, durch Arbeit und Anstrengung nicht weiterzukommen. Das hätten Sie, die Regierungsfraktionen, nicht vier Jahre lang ignorieren dürfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zu diesen Aufstocker:innen gehören auch viele, die zu Beginn der Corona-Pandemie viel Applaus bekommen haben, weil sie das Leben am Laufen halten. Eine Auswertung des DIW zeigt, dass die Mehrheit der sogenannten systemrelevanten Berufe unterdurchschnittlich bezahlt ist, wenig Anerkennung genießt, der Frauenanteil aber überdurchschnittlich ist. Da hilft auch der heutige Mindestlohn nicht weiter. Solange der Mindestlohn nicht armutsfest ist, solange er nicht auf 12 Euro erhöht wird, so lange verfestigt sich Armut sogar bei Menschen, die arbeiten. Das darf in einem der reichsten Länder dieser Erde nicht passieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Völlig inakzeptabel sind auch die vielfältigen Möglichkeiten, wie die Unternehmen Menschen prekär beschäftigen können. Minijobs sind ein Beispiel. So haben knapp 20 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 2019 gearbeitet. Obwohl auch hier natürlich das normale Arbeitsrecht gilt, wird es vielen Beschäftigten vorenthalten. Ein Drittel der Minijobber:innen bekommt keinen bezahlten Urlaub und fast die Hälfte im Krankheitsfall keinen Lohn. Das ist unsäglich, und das geht gar nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN)

– Genau.

In Zeiten von Corona wurden die Nachteile dann noch mal überdeutlich. Fast 1 Million geringfügig Beschäftigte haben ihren Job verloren, und zwar ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld und auch nicht auf Kurzarbeitergeld. Gut 600 000 davon waren Frauen. Minijobs bringen also mehr Nachteile als Vorteile. Deshalb wollen wir die Minijobs sozialversicherungspflichtig machen. Aus diesem Grund lehnen wir die Anträge der FDP und AfD, die die Minijobs ja ausweiten wollen, ganz grundsätzlich ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Faire Spielregeln braucht es auch bei den anderen arbeitsmarktpolitischen Themen. Die Arbeit auf Abruf beispielsweise macht nur dort Sinn, wo keine anderen Instrumente der Personalplanung greifen, also in Unternehmen mit kleiner Belegschaft. Auch die Leiharbeit wollen wir sozialverträglich gestalten, und das bedeutet „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, und zwar ab dem ersten Tag und mit einem Flexibilitätsbonus von 10 Prozent.

Dann gibt es auch noch die sachgrundlose Befristung; sie wurde schon angesprochen. Die wollten Sie, die Regierungsfraktionen, eigentlich eindämmen. Sie hatten sich auch inhaltlich geeinigt und haben das sehr detailliert im Koalitionsvertrag aufgeschrieben. Auch dieser Gesetzentwurf ist irgendwo im Nirwana verschwunden. Das ist wirklich ein Armutszeugnis. Wir brauchen wieder mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, mehr soziale Leitplanken. Dazu gehört auch, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, wir warten auch noch immer auf einen Gesetzentwurf zur Arbeitszeit, und das, obwohl das EuGH-Urteil bereits über zwei Jahre auf dem Tisch liegt. Zwei Gutachten wurden in Auftrag gegeben, eines von Minister Altmaier und eines von Minister Hubertus Heil. Beide kommen zum gleichen Ergebnis: Die Arbeitszeit muss dokumentiert werden, und das muss auch gesetzlich geregelt werden. – Und doch konnten sich die Minister nicht einigen. Das ist einfach nur peinlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Heute stimmen wir über einen ganzen Berg verschiedener Anträge ab. Die meisten dieser Anträge dokumentieren die Tatenlosigkeit dieser Bundesregierung. Viel wurde versprochen, wenig wurde eingehalten, obwohl die Corona-Pandemie doch bei den sozialen und arbeitsmarktpolitischen Problemen wie ein Brennglas wirkt. Es wurde einfach die Chance vertan, die Arbeitswelt sozialer, inklusiver und nachhaltiger zu gestalten. Dabei wäre genau das die zentrale Stellschraube für mehr Gerechtigkeit und für mehr Zusammenhalt.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


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